erinnerung als widerstand: annie ernaux „die jahre“

Erinnerungsbücher, Biografien, Autofiktionen: Das liegt im Trend sagen uns Verlage, Literaturkritikerinnen und Kultursendungen. Denn die authentische Erinnerung lässt uns miterleben, mitleiden und mit-interpretieren.

Dass literarisches Erinnern mehr sein kann, dass darin eine Dialektik von individueller Wahrnehmung und kollektiver Entwicklung aufscheinen und sich Widerstand gegen das Verordnete manifestieren kann, zeigt uns Annie Ernaux in „Die Jahre“.

In ihrer distanzierten, zumindest in der deutschen Übersetztung das „man“ strapazierenden Erinnerung an die Kindheit in den letzten Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs in einem Kaff in der Normandie, ans Heranwachsen, an die Sehnsucht nach Liebe und an die Ehe als Kompromiss zwischen Sehnsucht und Notwendigkeit, ans Großwerden der eigenen Kinder, an die Scheidung, an Liebschaften und eine Krebserkrankung, macht es uns Ernaux nicht leicht, jene Identifikation für das Miterleben zu finden, die uns das Genre Autofiktion schmackhaft machen will.

Atemlos durch die Epochen

Nahezu atemlos treibt uns Ernaux durch die Epochen, jagte Aufzählungen von Ereignissen, Moden und Konsumgüter über die Seiten, einzig innehaltend in den Fotografien, die sie beschreibt, darauf abgebildet „sie“, als Kind, junge Frau, Geliebte, Mutter, Großmutter. Das liest sich leicht, manchmal etwas einfallslos und zunächst ohne große Empathie zu wecken.

Und dennoch vermag Ernaux ein Panorama zu erschaffen, das weit über ihre eigene, persönliche Geschichte hinausgeht. In dem sie Chansons, Marksteine der Populärkultur und des philosophischen, gesellschaftskritischen Denkens mit politischen Einschnitten, Wahlen, Hoffnungen und Enttäuschungen an sozialistische und sozialdemokratische Kandidaten verbindet, entfächert sie ein Panorama des kollektiven Gedächtnisses, an das selbst deutsche Leserinnen und Leser anknüpfen können.

Aber was mit der Erinnerung an den ersten Fernseher, das erste Radio, die erste Schallplatte beginnt, wächst sich mit der Jahrtausendwende zum Terror zunehmender und globalisierter Warenströme aus. Immer mehr teilen sie die Gesellschaft in jene, die es sich leisten können, zu konsumieren, und jene, die es sich nicht leisten können. Und damit gleitet die augenscheinliche Biografie über in eine politische Haltung – ohne sie je plakativ darzustellen.

 

Biografie als Kapitalismuskritik

Immer tiefer frisst sich Konsum und Kaufterror in „Die Jahre“, verdrängt politische Wahrnehmung und Haltung – auch in den Medien. Die Erinnerung, ja das Biografische selbst, wird zur Kapitalismuskritik, das eigene Leben im dialektischen Rückgriff zum schärfsten Kritiker unserer Gegenwart.

Je näher der Text an unsere Gegenwart gerät, desto unheilvoller habe ich Ernaux’ Sätze wahrgenommen. Wie ein Science Fiction liest sich das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, gerade weil Ernaux konsequent ihren zeitlichen Rückgriff in die „fortschreitende, konsequente Vergangenheit“ des Imperfekts setzt. Das biografische Ich verliert in diesen letzten Jahren von »Die Jahre« seinen Impuls zum Widerstand, da ist kein Protest gegen den Verlust von Freiheit und die Abhängigkeit vom Konsum mehr, keine Warnung davor, wie die Ware die Welt zersetzt.

Aber genau darin liegt Ernaux’ Warnung: Uns vor Augen zu führen, wo wir stehen, was wir verloren und aus der Hand gegeben haben. In dem sie das autobiografische Ich als widerstandslose Konsumentin beschreibt, erschüttert sie uns, macht den Verlust des Gestaltungswillens zum schärfsten Schwert gegen unsere Gegenwart.

»Die Jahre« werden damit zu einer subtilen Gegenstimme gegen die gewertete Erinnerung, die längst die Medien für uns übernommen haben (vergl. C. Denz: Illusionierte Geschichte). In dem sie Fernsehen und Internet als Interpretatoren des kollektiven Geschichtskanons entlarvt, schafft Ernaux eine Vorstellungen davon, wir wir durch die eigene Erinnerung eine alternative Historie unserer Welt, der Ereignisse um uns, erschaffen können. In der individuellen Rückbesinnung entsteht eine kritische Distanz zur Gegenwart. In dem wir uns erinnernd vergewissern, was wir einst empfunden, gemeint und gehofft hatten, gibt es noch eine Chance, der Dystophie zu entfliehen … vielleicht.

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