/Illusionierte Geschichte (Textauszug)

Über das Vergessen im Fernsehen

Kurzbeschreibung: Fernsehen macht aus Geschichte Illusion mit den Mitteln der Emotionalisierung – und schafft damit die Emotion ab.

Das vorliegende Essay gibt dem Fernsehen seine gesellschaftspolitische Relevanz zurück und schafft eine zeitgenössische Medienkritik, die im Kontext von Internet und Apps nur zu gerne verdrängt wird.

  Inhaltsangabe  

 

(…)

Geschichte im Fernsehen

Das Fernsehen nun bedient mit Geschichtssendungen nicht nur das Bedürfnis des Menschen nach Bildung in der Freizeit. Es gilt mittlerweile als „zentrales Medium der populären Geschichtsschreibung“. Dabei unterliegen auch Geschichtssendungen wie alle Produkte des Fernsehens dem Primat des Neuen. Geschichte kommt im deutschen Fernsehen mittlerweile als Show, als Spielfilm, als Dokumentation und als Mischform aus gespielten Szenen und klassischer TV-Dokumentation daher, die mitunter herausragende Einschaltquoten erzielen.

Dass Geschichte überhaupt zum Unterhaltungsmedium werden konnte, sieht Nora in den sich verändernden Rahmenbedingungen der Gesellschaft begründet. Denn mit der Globalisierung und der EU-Erweiterung verlieren Staatsgrenzen ihren identitätsstiftenden Charakter, Geschichte kann, ist sie erst von der Identifizierung über den Nationalstaat entbunden, zu einem aus dem Alltag gelösten Unterhaltungsmedium werden. Aber auch für die Art der Geschichtsdarstellung in den Sendungen selbst liefert Nora Hinweise. Seine Auffassung, je stärker eine Gesellschaft das Erinnern zum Gesetz erhebt, desto stärker habe sie sich entfernt von gelebtem Gedächtnis, führt Geschichte an die Grenze zur Fiktion. Wie kann ich mir etwas vorstellen, was nur in Daten und Dokumenten vorhanden, in seiner Leib- und Lebendigkeit jedoch vergessen ist? „Die Geschichte ist unser Ersatz-Imaginäres“ , schreibt Nora. Das Fernsehen liefert in historischen Dokumentationen mit semifiktiven Spielszenen, in „TV-Events“ etwa zur Besetzung der „Prager Botschaft“ 1989 (RTL), zum „Tunnel“ (Sat.1) oder zur „Flucht“ (ARD) der Deutschen aus den Ost-Gebieten Ende des Zweiten Weltkriegs, in Reality-Experimenten zum Leben in der Steinzeit (ARD) und in Geschichtsshows wie „Unsere Besten“ (ZDF) scheinbar Sinnlicheit, Körper, Kleidung, Gesten und Sprache zu jenen Daten, die in Geschichtsbüchern aller Leibhaftigkeit entbehren.

Dabei interessieren die Zuschauer (und damit auch die Sender) mehr als die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen von Völkerwanderung, Weltkriegen und Mauerbau offenbar das emotionale Kapital, das in den Ereignissen steckt. Im individuellen Schicksal, in der dramatischen Personalisierung von Daten und Epochen wird Geschichte imaginiert. Schon deshalb tragen solche Formate mehr von den Wünschen und Sehnsüchten der Gegenwart in sich als von der Darstellung des Vergangen. Damit erfährt das kollektive Gedächtnis aber eine weitere Entfremdungsstufe. Wurde aus gelebtem Gedächtnis institutionalisierte Geschichte, so wird aus der Institution Geschichte im Fernsehen erfundene Wirklichkeit, eine Illusion: Die überaus realistische Darstellung von Straßen, Kostümen, Redewendungen und der Gebrauch von verbrieften Dokumenten nehmen jeglicher Geschichtsszenerie den Konjunktiv. Für den Zuschauer gilt: Was ich sehe, muss so gewesen sein. Dabei signalisieren die Dokumentationen, Spielfilme und Historienshows dem Zuschauer stets: Sieh, dies ist Dein kulturelles Erbe!

Per se weist die Geschichtssendung dem Zuschauer also einen Platz in der als kollektive Erinnerung verkauften Fiktion, in der Illusion von Geschichte, zu. Kollektiv wird die Fiktion nur insofern, als sie über das Massenmedium Fernsehen eine Sichtbarmachung der Fiktion bei allen Zuschauern erreicht, eine kollektive Illusion darüber erzielt, dass wirklich sein muss, was alle sehen. Die Geschichte als Illusion dessen, wie es hätte sein können, wird im Fernsehen zur Behauptung, wie es war. Und weil der Zuschauer vor allem im historischen „TV-Event“ dank Spannung und Tragik ganz von der produzierten Emotion „gepackt“ wird, gerät er selbst zum Bestandteil der Geschichte: Die Tränen, die er im Wohnzimmer über den Tod der Frau von Stein vergießt, zeugen von der Wirkung der inszenierten Geschichte in der Gegenwart. Die melodramatische Behauptung, wie es wirklich war, bindet den Zuschauer ein in die Illusion, er sei nicht nur Erbe jener Ereignisse, sondern emotional „voll dabei“.

Weiterlesen? Hier können Sie den Argumenten folgen, die zum Vergessen im Fernsehen führen, – und zwar als 

  pdf zum ausdrucken       und in Kürze auch als interaktives pdf sowie als Taschenbuch.

 

 

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