Capriccio (Olympia)

Unter seinen „Olympias“ knisterte verdorrtes Laub, Äste trieben im Fluss. Lax schaute auf die Pulsuhr: „62 Prozent“. Er zupfte eine Falte aus seinem Funktionsshirt und legte einen Zahn zu. Vorne kam ihm ein Läufer entgegen, schwarzes Outfit, grüne „Olympias“. „Albern“, dachte Lax als der Mann vorbei war, „in dem Alter!“ Seine Uhr zeigte „64 Prozent“. Noch einmal zog er an. Blätter stieben über den Weg. „Warum saugt die Stadt das nicht auf?“ Vor der Kurve tauchte Frauen in Mützen, Handschuhen, Hosen und Stiefel auf. „Hätten mal ein paar Jahre früher anfangen sollen“, dachte er und schaute demonstrativ zum Fluss, als sie an ihm vorbeiliefen.

Hinter der Biegung führte der Weg steil hinauf zur Hauptstraße. Lax holte Luft und rannte hinauf. Schon nahm er ein Murmeln war, mit jedem Meter schwoll es an. Die letzten Schritte lief er auf den Fußballen, die Waden spannten, dann war er endlich oben.

img_3584Vor ihm breitete sich ein Panorama aus Schritten, Köpfen und Bewegung aus. Menschen rannten in unzähligen Reihen von links nach rechts und von rechts nach links: Männer in Anzügen oder Arbeitskleidung, in Mäntel, Jacken, Schals, Mützen, mit Koffern, Werkzeug oder Akten in der Hand, mit Sneakern oder Schnürern. Frauen in Winterjacken, Stiefeln oder Trotteurs, mit Wollhüten, Kopftüchern, Handschuhen, elegant oder sportlich, irgendwohin und irgendwoher. Es schneite.

Lax tribbelte auf der Stelle, an seinem Armgelenkt flimmerte „74“. Vor ihm stolperte eine Dame im Kostüm über ihren Stockschirm. Der Mann hinter ihr setzte zum Überholen an, da schoss ihm ein Kinderwagen entgegen. Mit einem Satz rettete er sich wieder hinter das Kostüm.

Lax reckte den Hals. Auf der anderen Seite bibberte Kerbel in seinem Mäntelchen. „Auch das noch“, dachte er, machte einen Satz und duckte sich in die erste Reihe Richtung Stadt. Ein paar Meter trabte er hinter einer Matrone mit Strickhütchen und Gesundheitsschuhen drein, die Strumpfhose voller Matschflecken. Lax schlitterte in die nächste Reihe, die wiederum aus der Stadt führte, direkt in eine Gruppe Geschäftsleute hinein, die im Laufen über Probleme beim Verkauf diskutierten. „68 Prozent“ meldete die Pulsuhr. „Null Trainingseffekt“, maulte Lax und sprang in die nächste Reihe, dann wieder in die nächsten und so fort, bis er mit einem Hechter endlich drüben war.

Kerbel lupfte den Hut: „Der Herr“, sagte er mit einer Stimme, die so dünn wie sein Mäntelchen war. Lax zwang sich zu einem Lächeln und lief in weiten Schritten den Hang hinunter zum Fluss. Langsam verlor sich das Stimmengewirr, bis er nichts mehr vernahm als seine weichen „Olympias“. Auf der Wiese kämpften sich die ersten Krokusse hervor.

Da klatschen hinter ihm Ledersohlen auf den Asphalt. Lax seufzte und erhöhte auf „70“. Kerbel tauchte neben ihm auf, unter dem Arm einen Stapel Zeitungen. „Der Herr.“ Wieder lupfte er den Hut und zog einige Schritte an Lax vorbei. Einen Moment liefen sie im Gleichschritt hintereinander, Schwalben schossen über den Weg. Da ließ Kerbel sich neben Lax zurückfallen. „Wie laufen die Geschäfte“, fragte er. „Bestens“, tönte Lax, verärgert, dass er sich auf ein Gespräch einließ. „Und selbst?“ „Es geht, es geht“, antwortete Kerbel. „Sie wissen ja, die Leute lesen wenig.“ „Niemand hat mehr Zeit“, sagt Lax und legte noch einmal zu.

Kerbel hielt mit, zog den Hals ein, verengte die Augen und kam noch näher. „Können Sie schon etwas zu Ihrem Nachfolger sagen?“ Lax riss die Augen auf. „Wie meinen? Was?“ „Ganz ohne Namen, versteht sich. Anonym.“ Lax lief rot an. Kerbel ließ nicht locker. „Wann dürfte ich nachfragen?“ Lax biss sich auf die Unterlippe, Kerbel schaute ihn scharf von der Seite an. Dann ließen seine Augen die Verengung fallen. Lächelnd lupfte er den Hut, „der Herr“, und rannte über die Wiese davon.

img_3606Lax starrte vor sich hin, die Pulsuhr blinkte „87 Prozent“. Langsam gab er im Tempo nach. „Wenn es stimmt, was soll nur werden  …“, grübelte er, „Und von wem hat er sowas?“. Endlich blieb Lax schwer atmend stehen. Er schaute in die Richtung, in die Kerbel entschwunden war. „Er wird doch nicht? Das kann doch nicht?“ Schon setzte Lax mit großen Sätzen ebenfalls über die Wiese.

Vor der Zeitungsbox an der Haltestelle tribbelte er auf der Stelle. Durch die Scheibe las er von einem tragischen Zusammenstoß auf dem Damm. Ungeduldig riss Lax die Box auf, schnappte sich eine Zeitung und rannte über die Wiese zurück zum Fluss.

img_3489Im Laufen faltet er das Blatt auseinander und sucht nach Kerbels Konterfei. Auf Seite vier fand er die Kolumne. „Amts-Rochade“ stand da in schwarzen Buchstaben. Und darunter: „Warum wunderte nur ich mich? War ich verrückt geworden?“ Sofort spürte Lax einen stechenden Schmerz an der Nasenwurzel. „Es muss heißen: Warum habe nur ich mich gewundert“, hämmerte es in seinem Kopf. „Oder: Warum wundere nur ich mich. Kein Wunder, dass niemand die Postille liest.“ Er zerknüllte die Zeitung und warf sie in hohem Bogen in den Spätsommer-
abend, wo sie in weiten Schwüngen am Horizont verschwand.

 

(© c. denz | text und fotografien urheberrechtlich geschützt | alle rechte vorbehalten | 31.10.2016 )

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